Es gibt Menschen wie mich. Irgendwo da draußen. Ich kenne ihre Namen nicht, ich kann sie nicht sehen, und sie melden sich auch nicht bei mir, aber ich weiß, dass es sie gibt. Dies zu wissen, beruhigt mich, versöhnt mich, tröstet mich. Auch wenn es praktisch folgenlos bleibt, denn es ändert weder etwas an den herrschenden Zuständen, noch an meinem Gesundheits- oder Kontozustand. Und doch: Zu wissen, dass es euch gibt, beruhigt mich. Ich bin nicht allein aus der Art geschlagen, es gibt andere wie mich. Irgendwo.
Dass wir einander nicht kennen, liegt in der Sache selbst, in unserer Natur. Was uns verbindet und zugleich die Begegnung verhindert, ist Fragilität. Was uns im Herzen verbindet und deshalb im Raum trennt, ist ein schwaches Nervenkostüm, ein empfindliches Herz.
Wir sind so vielem nicht gewachsen.
Durchaus: Sanftheit! Freundlichkeit! Umarmungen! Scherzen! Satire, Ironie und tieferer Bedeutung! Wohl aber auch jedem respektvollen Austausch von Urteilen und Ansichten, die Möglichkeit des eigenen Irrtums immer im Blickwinkel. Nicht aber gewachsen sind wir dem Lärm, der Dummheit, der Grobheit des Vortrages wie der Geste, der 99 von 100 unserer Gegenüber ganz selbstverständlich ist und sie nicht im Mindesten berührt. Uns geht es anders. Unsere Antennen sind fein, nicht stabil. Bei Windstärken ab 3 brechen die einfach ab.
Windstärken 4 bis 12 herrschen allerdings fast überall. Nicht nur unter den meisten, den Lauten, Groben, die sich ganz vortrefflich finden und einander erst recht, allerorten, unter dem allerkleinsten gemeinsamen Nenner. Aber nicht nur unter den allgegenwärtigen Schlachtern, dumpfen Vorstoppern und Vollkaskofrauen mit schweren Knochen sind wir erschüttert deplatziert. Uns wirft schon der nur an sich selbst dichtende Jüngling aus der Bahn, umso mehr die Achtsamkeit predigende Beamtin in Teilzeit, die achtsam und liebevoll allein sich selbst im Blick hat (denn erst muss sie ja ganz zu sich kommen und sich mit ihrem inneren Kind versöhnen, ehe sie verantwortungsvoll den Blick auch auf andere richten wird können).
Wir sind so leicht zu erschüttern.
Das Laute wirft uns aus der Bahn. Das Dumpfe wirft uns aus der Bahn. Das Aktivaggressive wie das passive. Das Primitive. Das Achtlose. Das Dämliche. Das Plappernde. Das Egozentrische. Das Luxusjammern, das Lästern, das Wehleiden an Nichts. Das Lethargische. Das Schweigende.
Wir sind so allumfassend instabil.
Wir wissen nicht erst seit gestern, sondern seit unserem ersten Tag im Kindergarten, dass alles uns Selbstverständliche ganz und gar exotisch ist und ganz und gar nicht kompatibel mit 99 von 100 unserer Mitkinder und späteren -menschen. Wir sehen sie, sie uns nicht. Wir sind leise, sie nicht. Wir denken nach, sie nicht. Wir zweifeln, zuerst an uns selbst, sie nicht, und wenn, an sich selbst zuletzt. Wir wollen teilen, in Frieden sein, trösten und getröstet werden, sie nicht. Wir haben für alles Lebende eine Schwäche, sie nicht. Sie haben Stärken.
Wir kennen einander nicht. Natürlich finden wir nicht zueinander. Natürlich gehen wir nicht füreinander auf die Barrikaden. Natürlich verteidigen wir nicht mit flammenden Reden und in die Öffentlichkeit gehaltenen Gesichtern den einen, die eine von uns, die ihre Stimme erhebt für den Menschen, die sich hinausgewagt hat ins Feuer des Gewöhnlichen, des Groben, in die alles vernichtende Gemeinheit der Allgemeinheit. Wir fühlen mit, o ja, aus tiefstem Herzen. Wir senden gute Gedanken durchs fünfte Element, und ob! Und schweigen. Es nimmt uns alles so sehr mit.
Es ist uns nicht gegeben, zusammenzustehen.
Ich werde euch nie kennenlernen, nie sehen, nie hören. Aber ich bin nicht allein. Nicht nur auf meinem Dach liegt ab Windstärke 3 eine geknickte Antenne. Ihr seid da. Am Lauf der Dinge ändert das nichts. In mir alles. Zu wissen, auf allen Wegen durch Leben und Menge, dass ihr da seid, irgendwo, allerorten, unauffällig bis zur Unsichtbarkeit, still, leise und von edlem Gemüt, am Rande gehend, still unter all den Groben und Gemeinen.
Wir sind so ganz und gar nicht gerüstet.
Gut zu wissen.
Ich bin bereichert, versöhnt und beruhigt, weil es euch gibt.