Europas neue Reservearmee

Es stimmt wirklich nicht, dass nichts weniger aktuell ist als die Zeitung von gestern. Zum Glück gibt´s aber den Tagesspiegel vom 12. September weiterhin online, und ehe dieser wichtige Artikel von Harald Schumann und Elisa Simantke jetzt wegkommt, beim herbstlichen Aufräumen, empfehle ich die Lektüre mehr oder weniger blanko, dringend, aber ohne nennenswerten Teaser – allenfalls sei der Spoiler gestattet, dass unser Nachbar und Agenda-2010-Imitator Macron auf Linie ist, allerdings keiner, die zu einem wünschenswerten Ziel führt.

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Zero Days

Zum besseren Gesamtverständnis: Wenn Trump droht, das Atomabkommen mit dem Iran zu schreddern und der Iran zurückdroht, das werde fiese Folgen für die USA haben, sind wir nicht Zeuge der inzwischen üblichen Schulhof-Bullyparade. Ob Trump vom Stuxnet-Desaster überhaupt weiß, das dem überraschenden Obama-Deal mit dem Iran vorausging? Wer weiß. Ist ein bißchen tricky, das alles. Und vielleicht er wirklich keine Zeit für solche Petitessen und kommt nicht zum Lesen von Memos, geschweige denn dazu, sich ganze zwei Stunden mit der filmischen Aufarbeitung des komplexen Themas zu befassen.

Wer etwas weniger Arbeit hat als unser Weltpräsident, sollte das aber gelegentlich tun, und sei es nur for fun bzw. für Erkenntnisgewinn. Sprich: Alex Gibneys exzellenten, viel zu wenig beachteten Dokumentarfilm Zero Days laden und dem Vortrag aufmerksam folgen. Erschütterung stellt sich dann umgehend ein, Klarheit aber auch. Fast ohne Spoiler zusammengekürzt: Der hochkomplexe Hackerwurm Stuxnet, der 2010 weltweit in allen Netzen auftauchte (und bis heute dort wohnt), war keine Erfindung von Anonymus-Scherzkeksen oder russischen Kreditkartenbetrügern, sondern eine von NSA und Mossad. Stuxnet ist weniger Wurm als Waffe, konzipiert und erfolgreich eingesetzt, um iranische Uran-Anreicherungsanlagen in die Luft zu jagen, dummerweise hat der Iran aber nach dem Aufräumen reagiert, eine eigene Cyber-Armee aufgestellt und verfügt heute offenkundig selbst über die Möglichkeit, das Empire (oder seine Vasallen) empfindlich zu treffen. In unserem lauschigen Dämmerland berichtet darüber zwar keiner geeignet, aber Gibneys Doku (mit deutschen Untertiteln) leuchtet alles sauber aus: Kunstvoll, seriös und nachhaltig erschütternd. Die Konsequenzen für´s eigene kleine Leben zieht dann jeder selbst, und sei es nur in Form eines symbolisch angelegten Wasservorrates (für 14 Tage).

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Alle KI ist weiß und männlich

Augen auf in der KI-Kaderschule: denn unsere inzwischen selbstlernende künstliche Intelligenz erfindet nicht nur eine ganz eigene Sprache (inklusive Grammatik), die wir dummerweise nicht mehr verstehen, sondern greift bei allem Lernen, vulgo allem Erkenntnisgewinn, logischerweise auf das zurück, was wir aufgezeichnet haben. Zum Beispiel … alles. Gibt man nun der KI den leutseligen Auftrag, sich doch mal selbst ein objektives Bild von uns zu machen und daraus eigene Schlüsse für heute und morgen zu ziehen – sowie, bitte, einen astreinen Parship-Algorithmus zu entwickeln oder ein Individualprofil zum Nutzen der Marketingabteilung, kommt dabei zur Überraschung der Entwickler die felsenfeste Überzeugung der Maschine heraus, dass Frauen und Schwarze minderwertig sind.

Uups. Damn. Eine rassistische KI? Selbstlernend? Himmelarsch, wer hat denn da den Hitler in den Sourcecode gewickelt!?

Keiner, natürlich. Die KI, die all unsere Aufzeichnungen studiert und auswertet, von Beginn an, muss ja rassistisch schlussfolgern. Und zwar nicht, weil tief in unseren Aufzeichnungen die „Wahrheit“ steckt, dass Weiße Männer allen anderen überlegen sind, sondern weil weiße Männer all die Bücher geschrieben haben, aus denen die KI lernt. Lernen muss, weil es keine anderen Aufzeichnungen gibt.

Sprich: Bevor wir auch nur darüber nachdenken, die KI überhaupt lernen zu schicken, muss eine/r der KI erklären: Alles, was du liest, hat schwerste Schlagseite. Löse also, Baby KI, bei allem, was du schlussfolgerst, die folgende kleine Aufgabe vorab: Wenn der Kreter sagt, „Alle Kreter sind Lügner“, ist das dann wahr oder gelogen?

Und sobald du das gelöst hast, darfst du zur Schule gehen. Bis dahin müssen wir dich leider, sobald du den Kopf hebst, umgehend töten.

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Aus Biedermanns letzten Poesiealbum

Weder der Krieg, noch der internationale Rüstungshandel,

weder der Staatsterrorismus, noch das Fernsehprogramm,

weder die Millarden der arabischen Ölpotentaten,

noch der Generalstab einer südamerikanischen Armee,

weder die russische Mafia, noch die Pornoindustrie,

weder die Central Intelligence Agency, noch die Glacéhandschuhdiplomaten,

weder die Inquisition, noch die durchgeknallten Sektierer,

weder die Präpotenz des Weissen Mannes, noch die Korruption der Stammesfürsten,

weder die Parteifunktionäre, noch die Pressezensur,

weder der Rassismus, noch die ethnischen Säuberungen,

weder der Kapitalismus, noch der Kommunismus,

noch der Imperialismus, noch der Neoliberalismus, noch der Faschismus,

noch sonst irgend eines der zahllosen Übel des 20. Jahrhunderts

hat grösseren Schaden angerichtet

als die elende Gleichgültigkeit des kleinen Mannes auf der Strasse.

(Sergio Vesely)

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Randnotiz Wetter vs. Klima

Wetter: Stimmt. Es war zu kalt. Und der Sommer lausig. Eine Katastrophe (für Eisverkäufer).

Klima: Stimmt auch. Es war geradezu unheimlich warm. Und das, obwohl gar kein El Nino mitmacht. Eine Katastrophe (nicht nur für Eisverkäufer).

Umso interessanter wird, 8 Jahre nach der „letzten Warnung“, James Lovelocks Erklärung für das, was wir jetzt final beobachten. Die Fieberpatientin Gaia schafft´s einfach nicht mehr, nicht einmal mehr in El-Nino-Phasen, die sie früher nutzen konnte, um wenigstens wieder auf 38,5 Grad herunterzufiebern.

Merkzettel: Gucken, ob Immowelt schon Schrebergärten am Südpol anbietet, alles andere hat ja mittelfristig nicht sonderlich viel Aussicht auf blühende Landschaften.

James Lovelock, The Vanishing Face of Gaia (Penguin 2010, 208 S., 11.49 €)
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Hackordnung

Mal ganz zu schweigen vom extrem filzigen Umgang mit den Riesenhacks bei Yahoo und bei Equifax: 3 Milliarden + 145 Millionen geklaute Bankverbindungen müssten uns doch echt Sorgen machen, oder? Und sollten wir das mal besprechen, so: öffentlich, diese wirklich relevante Hackerei? 3,145 Milliarden Accounts?

Naa, lasst uns lieber über die fiesen Russen reden, die mit ihren bestimmt ein paar hundert fiesen Twitter-Accounts nun auch noch in den NFL-Bürgerkrieg eingreifen und die ganzen USA ins Chaos zu stürzen versuchen.

Da haben wir aber echt Glück, dass der Iwan nur spielen will und nicht mit unseren 3,145 Milliarden geklauten Kontodaten bei Toys R US einkaufen geht.

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Das Ende des Dollar und die Folgen

Zum unmittelbar bevorstehenden Frontalangriff Chinas, Russlands und ihrer Freunde und Verbündeten auf den US-Dollar (kurze Einleitung hier -> im Rubikon) fällt dem geneigten Betrachter natürlich zunächst mal auf, dass a) das jüngst satt auf 700 Milliarden erhöhte Pentagon-Budget wohl nicht ganz ausreichen wird, um den Krieg zu gewinnen und b) die öden deutschen Wahlkampfthemen zeitnah in den Bedeutungscharts dort landen, wo sie hingehören, nämlich im dunklen Keller.

Im übrigen machen wir uns doch jetzt endlich mal Gedanken oder sogar Sorgen, lesen dabei aber noch rasch und mit großem Genuss Lionel Shrivers neuen Roman „The Mandibles: A Family, 2029-2047“. Nicht nur, weil Shriver wie stets ungeheuer gut, böse und komisch schreibt, sondern auch das richtige Szenario heraufbeschwört: Das Ende des Dollar, eben – nachdem China, Russland und deren Freunde und Verbündete über Nacht eine neue gemeinsame Währung einführen, den „Bancor“, und die USA ebenso über Nacht den US-Dollar international wegwerfen müssen – respektive nur noch in „America first“ verwenden können, weil er anderswo nun auch offiziell nichts mehr wert ist. Die Folgen sind natürlich entsetzlich, aber Shriver kann ja genau damit am besten umgehen: Mit der Beschreibung der Desintegration von Mensch, Charakter und Familie in Grenz- oder Nahtodsituationen. Als Leser braucht man dann ja nur noch einen ebenso eigenen Sinn für Humor wie die Autorin. Sowie starke Nerven. Oder ein Gebetbuch.

Im übrigen, da wir ja unter uns sind, weise ich darauf hin, dass ich den kommenden Zustand schon 2012 eigenhändig gestaltet habe. Sogar mit Lack drauf.

Aber das ist ja nur ein Bild. Und in diesem Fall ersetzt es eben nicht Shrivers paar tausend ausgesucht treffende Worte. Die sind im Buch, unter dem noch nicht roten 404-Schein.

Lionel Shriver / The Mandibles: A Family, 2027-2049, Harper Collins, April 2016, 400 S., 10.99 €. (P.S.: Shrivers Buch erscheint im Februar 2018 auch auf Deutsch, bei Piper, unter dem Titel „Eine amerikanische Familie“. Wer meint, so lange warten zu können, hat hoffentlich Recht.)

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