Zahlen, bitte!

Aber ja, doch – es hat schon alles seine demokratische Richtigkeit, wenn sich jetzt die gesammelten Vertreter der Systemgewinner von rechts (CSU) bis satt (Grüne) zusammensetzen und ihre Differenzen unter den Jamaika-Tisch kehren. Denn bei diesen Verhandlungen sind, ganz nach dem Wunsch der Profiteure, 70,5% der hier lebenden Menschen nicht repräsentiert. Sprich: Den Wünschen der Mehrheit wird nicht entsprochen, die Repräsentanten von nur 29,5% der Bevölkerung entscheiden allein über unsere Zukunft und die unserer Kinder.

Im Detail und in gebotener Kürze: Von den 82 Millionen hier lebenden Menschen waren 21,5 Millionen nicht wahlberechtigt (die meisten davon, weil sie noch nicht volljährig sind). Von den verbleibenden wahlberechtigten 61,5 Millionen haben 15,37 Millionen die Wahl verweigert. Von den nun noch verbleibenden 46,13 Millionen Wählenden sind 2,3 Millionen nicht repräsentiert (da die von Ihnen gewählten Vertreter unterhalb der 5%-Hürde blieben), weitere 19,5 Millionen dürfen über den Zukunftskurs nicht mitentscheiden (da die von Ihnen gewählten Vertreter (SPD, 9,45 Millionen, AfD, 5,8 Millionen, Linke 4,24 Millionen) allenfalls verbal opponieren dürfen.

Es verbleiben also mit nur 24,3 Millionen von 82 Millionen lediglich 29,5% der Bevölkerung alleinentscheidend – die politischen Vertreter unserer geschätzten Elite, der verbleibenden gutsituierten Mittelschicht inklusive aller Medienvertreter, dazu der Beamten, Pensionäre und gut gestellten Rentner. Jener 29,5%-Minderheit also, die keinerlei Interesse an gesellschaftlicher Veränderung hat. Jedenfalls keiner, die der 70,5%-Mehrheit zugute käme.

Ernüchternd? Na ja, einerseits. Aber andererseits: Wenn´s jetzt schon einer letzten verzweifelten Koalition von Landschwarzbraun bis Olivgelbgrün bedarf, vom röhrendem Hirsch bis Inner-City-SUV, um diesen immer weiter schrumpfenden Gewinnerkern noch zusammenzuhalten, ist´s zur echten Veränderung doch gar nicht mehr so weit. Auch wenn weiter und immer lauter aus allen Volksempfängern die frohe Propagandakunde ertönt von Siegen an allen Fronten („Vollbeschäftigung! Exportweltmeister! Unsere Führer können sogar die Präsidenten von USA und Russland fast gleichzeitig beleidigen! Hurra und Jawoll!“) – es stehen doch einige größere globale Renovierungsmaßnahmen zeitnah an, und spätestens nach diesem kommenden Crash wird sich hierzulande die Zahl der 24,3 Millionen um 10 Millionen jäh erwachte Mittelschichtler reduziert haben. Und dann, endlich, sollte es doch reichen können für eine gescheite Querfront der Vernunft (Arbeitstitel).

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Wurfgeschosse für Platons Höhle

Wichtig, neu und vergleichsweise handlich: Zwei 1A-Wurfgeschosse, mit denen man auf die Köpfe derer zielen kann, die in Platons Höhle noch immer an die Wand starren und das verschwommene Schattenrissbild für die Realität halten. Mit Können und etwas Fortune geworfen, lässt sich mit beiden Bänden (siehe unten) zumindest etwas Bewegung ins Publikum bringen, und vielleicht wendet der eine oder die andere ja sogar reflexartig den Kopf – und sieht endlich, wie die Dinge wirklich liegen, in der Wirklichkeit vor dem Höhleneingang.

Anders gesagt: Das muss man alles wissen. Und darüber muss man reden. Dringend. Denn jedes Gespräch über die von a) Jens Wernicke & b) von Ullrich Mies & Jens Wernicke herausgegebenen inhaltsstarken Sammlungen bringt den Leser nicht nur der Realität näher, sondern auch dem planvollen Handeln mit Blick nach vorn. Auch wenn kühne Lösungsvorschläge und/oder Zukunftsperspektiven in beiden Bänden fehlen (journalistisch ehrenvoll), bleiben nach der Lektüre dringende Fragen für den geneigten Empfänger stehen – Fragen, die er je nach persönlichem Temperament anders beantworten wird, für sich selbst. Die Antworten reichen dabei vermutlich von „Auswanderung“ bis „Militante Revolution“, von „Rückzug und Anschaffung eines Notstromaggregats“ bis „Noch schnell alles austrinken“, aber wer halbwegs wach mitliest, dem ist zumindest die Alternative „Nichtstun“ wirksam verstellt. Und das wäre dann schon 100% realitätstauglicher als unser derzeitiges kollektives Dösen.

(Spoileralarm): Das Publikum ist ausgesprochen wendig und selbst mit gut geworfenen Büchern wie diesen kaum zu treffen. Aber wer weder Kosten noch Mühen noch gesellschaftliche Ächtung im verwackelten Bekanntenkreis scheut, erzielt ja mittels „hier,  weil du doch so gern Tagesschau guckst, ein Geschenk für dich!“ vielleicht doch einen Wirkungstreffer.

Jens Wernicke (Hrsg.) – Lügen die Medien? (Westend 2017, 357 S., 18 €)

Ullrich Mies & Jens Wernicke (Hrsg.) – Fassadendemokratie und Tiefer Staat (Promedia 2017, 272 S. 19,90 €

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Passt schon

Wie schön, dass keiner indigniert den Kopf schüttelt. Der Beweis ist erbracht, dass Deutschland keine Zweiklassengesellschaft ist, wenn einfache Leute in der Tombola Karten für Bayreuth gewinnen, sich schick machen und keine Vertreterin der Gucci-Fraktion die Nase rümpft. Man erkennt wohlwollend an: Die freuen sich, die guten Simpel, wie Bolle. Und geben sich doch Mühe. Natürlich lackiert sie sich dann eine H&M-Clutch und einen Obi-Müllsack bronzen und schneidert sich den passend hin, natürlich zieht er sein Sakko von vor 20 Jahren an, und  natürlich sagt sie ihm nicht, dass es falsch geknöpft ist, weil sie das doch gar nicht weiß. Aber sie gehören trotzdem dazu. Heute. Ausnahmsweise.

Viel Vergnügen mit Wagner. (Die Bühne ist vorn).

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Der betrogene Patient

Meine Entscheidung von 2008, die Schulmedizin und deren dringende Tysabri-Empfehlung abzulehnen, habe ich gelegentlich öffentlich begründet, nämlich mit dem damaligen Entschluss: „Wenn ich schon sterben muss, dann doch lieber an meiner Krankheit als an der Behandlung“. Das Publikum des Kölner Treff war danach sehr still, aber während ich mitten drin weiter Auskunft geben durfte, murrte und murmelte es leise um uns herum. Denn offenkundig war dieser gedankliche Selbstgänger für viele der Anwesenden ein Affront. Man muss doch den Empfehlungen der Ärzte folgen. Die helfen einem doch. Die wissen, was sie tun. Und haben wirksame Medikamente, gründlich getestet und von Behörden zugelassen. Medikamente, die in jedem Fall den Zustand des Patienten verbessern. Wie kann einer da so unvernünftig sein, nichts zu tun? Oder besser, nichts hinzuzufügen, sondern alles wegzulassen, was den Körper bei der Heilung stört. Und dann behauptet dieser Vollkranke auch noch, der Körper wolle nichts anderes als heil sein. Man dürfe sich ihm nur nicht in den Weg stellen, sondern müsse ihn dabei unterstützen, so gut es eben geht. Eben, durchs Weglassen von allem, was ihm schadet, was ihn irritiert, was ihn stört. (Murmelnd aus dem off: „Verrückt, der Böttcher. Hirnverbrannt. Muss an seiner MS liegen. Case closed.“)

Dass der Schulmediziner Dr. Gerd Reuther eben diese Maxime des Weglassens kennt und in seinem Buch „Der betrogene Patient“ immer wieder unterstreicht, reicht eigentlich schon aus für seine Disqualifikation als systemkonformer Arzt. Denn wer als Mediziner so denkt – oder gar so handelt – dessen Karriere ist schlicht beendet (oder fängt gar nicht erst an). „Weglassen“ ist im Gesundheitssystem keine Option, denn „Weglassen“ verheißt ja Entsetzliches: Umsatzeinbrüche für Ärzte, Behandler und Krankenhäuser, obendrein auf natürlichem Weg gesundende Patienten, die nicht dauerbehandelt werden müssen, sondern einfach wieder auf die Beine kommen. Das kann niemand wollen. Außer den Patienten, klar, aber was die wollen, kann nicht von Bedeutung sein in einem System, das inzwischen, wasserdicht gestaltet, 12% des BIP generiert und Unmengen Arbeitsplätze sichert.

Wie präzis alles in diesem System verzahnt ist und unheilvoll zum Schaden des Patienten zusammenhängt, hat Reuther in seinem Buch zusammengetragen, knattertrocken formuliert und mit einem kleingedruckten 60-Seiten-Quellenapparat belegt – sein Buch findet daher seinen angemessenen Ehrenplatz zwischen denen von Goetzsche, Angell, Goldacre und Kassirer – als Pflichtlektüre für jeden, der sich zumindest vorstellen kann, jemals krank zu werden und zum Arzt zu gehen. Erst recht natürlich für alle, die sich bereits „in Behandlung“ befinden, also dem System dienen, indem sie sich kostenpflichtig chronisch kaputttherapieren lassen.

Wer das Thema kennt, wird natürlich gelegentlich bloß nicken und weiterblättern, weil wir ja längst alle wissen, dass man in Krankenhäusern stirbt, weil unsere stolzen Ärzte sich das Händeschütteln nicht abgewöhnen können („Das haben wir schon immer so gemacht“), aber Reuthers trockener und faktenreicher Vortrag erhellt weit mehr als die meisten Berichte über das Gesundheitssystem, dass das System eben nicht krank ist, sondern sich äußerst gesund und vital selbst dient.

Natürlich ist diese systematische Selbstbedienung unmoralisch und gemeingefährlich für jeden Patienten, aber die Gestaltung des „Gesundheitssystems“ ist so grundsätzlich konsequent und richtig im Sinn des übergeordneten Systems, also unserer gesamten Lebens- und Wirtschaftsorganisation, dass sich gar nichts ändern kann – solange wir nicht fundamental umdenken. (Save the date: Wenn Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen). Der Patient ist indes gut beraten, sich dies klarzumachen: Alles, was medizinisch vernünftig wäre, rasche Gesundung beförderte und chronische Krankheit vermiede, ist schlicht geschäftsschädigend – und schlecht für´s BIP.

Reuthers Buch dient mithin bei allem Faktenreichtum vor allem der Aufklärung des Patienten, der bislang irrglaubte, das Gesundheitssystem versuche ihm zu dienen – ihn also gesunden zu lassen. Das ist nicht der Fall, denn gesunde Menschen sind Gift für die Bilanz. Gesunde Menschen brauchen keine Medikamente und keine Ärzte. Welches Interesse sollten also Pharmahersteller, Krankenhausbetreiber und Ärzte an gesunden Menschen haben? (Am Rande: Weshalb selbst die Krankenkassen kein Interesse mehr an nicht chronisch kranken Menschen haben, wird jedem klar, der sich mal spaßeshalber zum „Morbi-RSA“ durchgoogelt; man betrachte diesen als finalen genialen Coup der Gesundheitsindustrielobby, um den gesundungswilligen Patienten endgültig abzuservieren).

Kurz: Sich all dies mittels Lektüre des Reuther-Berichts vor dem Arztbesuch klarzumachen, ist zwar äußerst deprimierend, aber auch äußerst hilfreich, denn es bewahrt jeden, der sich temporär unwohl fühlt, so oder so vor Schaden. Entweder, weil er auf den Arztbesuch gleich verzichtet, oder weil er die Therapievorschläge seines Arztes richtig versteht. Als dienlich, aber nicht dem Patientenwohl, sondern dem eigenen.

Dr. med. Gerd Reuther, Der betrogene Patient. riva, 400 S., 19.99 €

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Der smarteste Weg zum toten Meer

Lachs? Delikat! Gab´s früher nur bei reichen Leuten nur zur Weihnachtszeit, heute für jedermann jederzeit billig aus jedem Aldi. Weil wir eben längst schlau sind und Lachse in Aquafarmen züchten, vulgo: in kleinen Becken, in denen sie in ihrer eigenen Scheiße schwimmen sowie reichlich Antibiotika. Da Fische – Fischbauern zufolge – keinen Schmerz empfinden und sowieso eher Wassergemüse sind, müssen wir uns um irgendwelche schlechten Vibrationen also nicht sorgen, die wir da mit der Antibiose  in uns reinstopfen, aber neuerdings gibt´s ein Zusatzproblem mit den Lachsen – und eine supersmarte Zusatzlösung.

Denn in der industriell angerührten lebenden Lachssuppe treibt sich auch Ungeziefer rum, vulgo: Seeläuse. Die leider die Lachse killen. Was natürlich die Lachsbauern in Panik versetzt, weil sie ihre ganzen Millioneneinnahmen verlieren. Aber nachdem man jahrelang bloß noch mehr Chemie in die Becken gekippt hatte (Meister Proper?), ist man vor einiger Zeit auf eine viel bessere und nachhaltigere Idee gekommen. Es gibt nämlich tatsächlich Lebewesen, die Seeläuse mögen. So sehr, dass sie die sogar essen. Und das sind die Lippfische. Putzerfische. Gibt´s im Meer. Sonst wäre das nämlich schon längst global umgekippt vor lauter Läusen.

Was macht also der schlaue Bauer? Der Großbauer, der industrielle? Richtig. Er chartert flottenweise Dickschiffe, fängt regelmäßig zig Tonnen Putzerfische und setzt die in die Scheiße, zu seinen Lachsen. Dort fressen die Putzer die Läuse, und wenn sie damit fertig sind, zieht der Bauer sie wieder raus und fährt sie zurück nach Hause.

Quatsch. Wenn die fertig sind, zieht der Bauer sie wieder raus und haut sie tot. Würde doch nur ein Heidengeld kosten, die Viecher wieder zurück aufs Meer zu fahren.

Das Schöne ist: Die Dreckslachse vegetieren jetzt wieder vor sich hin und kratzen nicht schon vor dem Regal ab, der Verbraucher hat nichts zu murren, Aldi hat Vorrat.

Nicht ganz so schön ist, dass die Putzerfische im Meer fehlen. Also genau dort, wo sie wirklich dringend gebraucht werden. Was im Ergebnis bedeuten wird, zeitnah: Wir können zwar weiter Scheißlachs aus dem Antibiotika-Bottich essen, aber die Fische in den Meeren sind leider alle tot. Und die Meere dann eben auch.

Hey, wenn das keine nachhaltige Taktik ist, was dann?

Details im Guardian (Robin McKie, Salmon farmers ‘put wild fish at risk’ in fight to kill off sea lice, 10. Juni) und/oder bei der BBC.

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Hurra, hurra, die Schulpflicht brennt! (4)

Die von mir im frischen Rubikon angestoßene Debatte über den deutschen Schulzwang hat nach reichlich Facebook-Kommentaren die Redaktion veranlasst, gleich zwei Erwiderungen zu veröffentlichen, die sich für den Erhalt der hierzulande praktizierten „Schulpflicht“ stark machen, nachzulesen hier und hier. Meine Erwiderung darauf findet im Rubikon aus absolut nachvollziehbaren Gründen keinen Platz, aber hier durchaus.

Hurra, hurra, die Schulpflicht brennt! (4)

Die einleitenden Worte meines ursprünglichen Textes waren nicht zufällig gewählt: „Anders als die meisten anderen Bewohner der zivilisierten Welt kennt die Mehrzahl der Deutschen nicht den Unterschied zwischen Bildungspflicht und Schulpflicht„: dies war als höflicher Hinweis zu verstehen, sich vor dem Einstieg in die Debatte darüber klar zu werden, worüber eigentlich debattiert werden soll. Ebenso eindeutig stand (meines Erachtens) eine glasklare Frage im Raum, gestellt an die Befürworter und Verteidiger der deutschen „Schulpflicht“ (= „Staatsschulgebäudeanwesenheitspflicht“) und diese Frage lautet: „Halten Sie es für zulässig, mich zu zwingen?“

Meine Antwort darauf lautet grundsätzlich „Nein“, denn Zwang ist Gewalt. Die Antwort der Mehrheit, im Rubikon vertreten von Magda von Garrel wie von Wolf Wetzel (siehe Links oben), lautet grundsätzlich „Ja“.

Das ist selbstverständlich eine zulässige Position. Und auch wer grundsätzlich gegen Zwang ist, wird diesen im Ausnahmefall gutheißen, denn Freiheit findet immer dort ihre Grenze, wo die Freiheit anderer berührt oder eingeschränkt wird. Ich halte daher beispielsweise den Volljährigkeit voraussetzenden Zwang zur Ablegung einer Führerscheinprüfung für zulässig, weil ich nicht von einem sechsjährigen Ferrari-Piloten überfahren werden möchte.

Die Bildungsfreiheit aber schränkt nicht die Freiheit anderer ein. Der Schulzwang, mehrheitlich begrüßt, hingegen sehr wohl. So ist unsere grundsätzliche Meinungsverschiedenheit in diesem alles entscheidenden Punkt eindeutig festzuhalten. Denn wir debattieren fürderhin respektvoll im Wissen, dass unsere Positionen betreffend den Schulzwang grundsätzlich unvereinbar sind. Humboldt forderte, der Staat solle „sich aus Familie und Ehe heraushalten und diese Bereiche der ‚freien Willkür der Individuen und der von ihnen errichteten mannigfachen Verträge gänzlich überlassen’“. Wetzel schreibt: „Ganz ehrlich gesagt: Genau „diese freie Willkür der Individuen“ will ich nicht.“ Und „Ich möchte diesen Familien (auch den guten) nicht diese Macht geben.“

Das ist erfrischend ehrlich und sorgt für Klarheit. Und Wolf Wetzel weiß hierbei von ganz links bis ganz rechts sicher 80% der Bevölkerung sowie 98% ihrer gewählten Vertreter hinter sich – die Abschaffung der Schulpflicht ist politisch schlicht kein Thema. Denn dass man das Individuum zwingen darf, darin besteht Konsens. Uneins ist man sich nur, zu was genau man zwingen darf, also was in den staatlichen Zwangsanstalten per Lehrplan indoktriniert werden soll. Magda von Garrel bringt diese Position präzis auf den Punkt: „Anders ausgedrückt: Selbst eine aus einem totalitären Geist heraus geborene Schulpflicht kann in einer sehr demokratischen und auf das Wohl der Kinder bedachten Weise praktiziert werden.“ (…)„Ich persönlich plädiere aus den zuvor genannten Gründen sowohl für eine Beibehaltung der“ (bestehenden deutschen) „Schulpflicht als auch für eine Beibehaltung des öffentlichen Schulwesens.“

Wir halten also fest: Wir sind nicht nur uneins, wie Schule und Bildung im Detail organsiert werden und ablaufen sollen. Wir sind diametral unterschiedlicher Ansicht hinsichtlich Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums. Hier, in diesem alles entscheidenden Punkt (und zwar nicht nur in Sachen „Schule“) gehen unsere Meinungen als Freunde auseinander, im 180-Grad-Winkel. Und mögen wir im weiteren Verlauf der Gespräche auch manchmal oder oft einer Meinung sein: Grundsätzlich ist diese Meinungsverschiedenheit unüberbrückbar. Dies festzuhalten, ist überaus wichtig, um nicht aneinander vorbeizureden – vor allem ist dies wichtig für Eltern, die meinen, sie forderten mit der Abschaffung des deutschen Staatsschulgebäudeanwesenheitszwanges etwas Selbstverständliches, die Gewährung eines Menschenrechtes. Das ist nicht der Fall. Die Befürworter des Schulzwanges müssen nicht etwa über einen „Irrtum“ ihrerseits aufgeklärt werden. Sie wissen ganz genau, wovon sie reden, was sie meinen – und weshalb sie den Schulzwang beibehalten wollen.

„Du liebst mich nicht! Du schenkst mir ja nicht mal ein Auto!“

Begriffliche Unschärfen führen allerorten schnell ins Neblige, nicht nur in der Liebe. So stellten viele Facebook-Kommentierende richtig, die „Schulpflicht“ sei beileibe keine Nazi-Erfindung, sondern bereits 1919 eingeführt worden (richtiger ist: sie bestand sogar schon lange vorher), und die „Schulpflicht“ sei heute ganz generell ohnehin weltweit verbreitet. Das ist nicht ganz falsch. Aber auch nicht richtig, denn wenn zwei „Schulpflicht“ sagen, meinen sie noch lange nicht dasselbe.
Richtig ist, dass eine Schulpflicht in Deutschland nicht erst seit 1938 besteht. Allerdings kannte Deutschland bis 1938 kein Verbot des Privat- oder Hausunterrichtes, schon gar nicht den strafbewehrten Schulzwang. Der Klarheit halber wollen wir also beim deutschen Sonderweg nicht von „Schulpflicht“ sprechen, sondern korrekterweise vom Schulzwang. Was andernorts Schulpflicht heißt, wird indes dennoch weltweit unterschiedlich interpretiert, meint aber im humanistischen Kern eine Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder zu beschulen oder beschulen zu lassen (nicht zwingend vom Staat). Hiermit unterscheidet sie sich grundsätzlich vom nordkoreanischen und deutschen Schulzwang, also der von Eltern durchzusetzenden Kinderpflicht zur Anwesenheit in staatlich kontrollierten Lehranstalten. Wir wollen also das Kind oder die ursprüngliche Forderung präzis beim Namen nennen. Es soll beileibe nicht die Pflicht der Eltern entfallen, ihre Kinder zu beschulen oder beschulen zu lassen – wohl aber soll verschwinden der deutsche „strafbewehrte Staatsschulgebäudeanwesenheitszwang“.

Wolf Wetzel und Magda von Garrel vermischen diesen Schulzwang mit diversen unterschiedlichen Interpretationen der Schulpflicht, der Unterrichtspflicht sowie dem Recht auf Bildung und vermengen obendrein „Der Zwang muss weg“ mit „Die Schulen müssen weg“. Das ist höchst problematisch, weil es die Intention des Urtextes komplett unkenntlich macht und sodann im schnellen Dreisatz dem Autor unterstellt, er wolle „die Schulen“ abschaffen, zudem erinnerten seine Ideen an „neoliberale Diskussionsmuster (…), mit deren Hilfe der Ausbau öffentlich finanzierter Privatschulen forciert werden soll.“ (Magda von Garrel)
Diese pseudokausale Kette ist vollständig unseriös, denn weder hat der Autor gefordert, Elternpflichten abschaffen noch Privatschulen mit öffentlichen Mitteln zu bauen. Das öffentliche Schulsystem soll dringend bestehen bleiben. Parallel entstehende freie oder private Schulen werden nicht aus öffentlichen Mitteln finanziert (der Autor hat dies nie insinuiert). Jedes Kind, gleich welchen „Standes“ hat ein Recht auf Bildung. Wir, als Gemeinschaft, stellen sicher, dass jedes Kind diesen Zugang erhält. Wetzel schreibt: „Es hat viele Kämpfe gekostet, dass Bildung/Schule ein Recht wurden, das vor allem jene in Anspruch nehmen, die sich das ansonsten nicht leisten konnten. Ein Recht, das weder von der Familie, noch vom Einkommen abhängig ist.“

Richtig. Das ist vollkommen unstrittig. Und soll so es bleiben: das Recht auf Bildung, unabhängig von Stand oder Einkommen. Aber als Argument gegen die Abschaffung des Schulzwanges taugt die Feststellung nicht im Geringsten, sondern ist lediglich irreführend. Denn was, um Himmels willen, hat das Recht auf Bildung mit der strafbewehrten deutschen Schulgebäudeanwesenheitspflicht zu tun? Es ergibt sich doch nicht aus dem von uns jahrhundertlang erkämpften Recht, sich scheiden zu lassen, die Pflicht, sich scheiden zu lassen. Aus dem Recht auf Kornrausch nicht die Pflicht zum Kornrausch, schon gar nicht der Zwang zum Rausch mittels Korn aus Staatsfabriken. Rhetorisch aber ist das Mittel bewährt: mittels einer Binsenweisheit, die jedermann teilt und beklatscht, unterstellt man dem, der einen Pflicht oder einen Zwang infrage stellt, er wolle ein Recht abschaffen.

Zuletzt: Der Staat fürchtet ganz zurecht „Kontrollverlust“, wenn seine Bürger frei denken und selbstbestimmt handeln. Der Preis der vollständigen Kontrolle ist allerdings hoch, und wie wir in den Vergleichsländern Kuba und Nordkorea sehen, hilft am Ende nur noch ein Ausreiseverbot, will man die „Andersdenkenden“ oder „Ungleichen“ im Land halten. Hier wird von den Autoren der Erwiderungen „Freiheitsliebe“ gleichgesetzt mit dem Wunsch nach „Zweiklassengesellschaft“ einer „Feudalherrschaft“ oder „neoliberalen Verhältnissen“. Diese Assoziationen sind irreführend und verfälschen die erklärte Intention des Ursprungstextes, in dem der Fortbestand der Bildungspflicht (und der damit zusammenhängenden Rechte) ausdrücklich einleitend genannt sind. Abermals: Das Recht auf Bildung und Beschulung bleibt bestehen. Wir sorgen als Gemeinschaft dafür, dass jedes Kind Bildung und Beschulung erfährt. Wir werden unsere öffentlichen Schulen besser machen denn je. Dennoch bleibt die Forderung bestehen: Kein verantwortungsvoller und kompetenter Humanist wird zukünftig mehr unter Androhung von Beugehaft und Kindesentzug in Richtung Psychiatrie gezwungen, sein Kind, das wichtigste, was es in seinem Leben gibt, in eine seelen- und lebenszerstörende Staatsanstalt zu schicken, sofern er selbst den Zugang zu Bildung für seine(n) Schutzbefohlene(n) besser herstellen kann.

Aber entspannen wir uns. Denn dem Autor ist bewusst, dass diese Forderung auf taube Ohren trifft und weiter treffen wird. Zwar lautet Artikel 6 unseres Grundgesetzes „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“, aber das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1986 (BvR 794/86) klargestellt: „Die allgemeines Schulpflicht und die sich daraus ergebenden weiteren Pflichten beschränken in zulässiger Weise das in Art. 6 II 1 GG gewährleistete elterliche Bestimmungsrecht über die Erziehung des Kindes.“
Wolf Wetzel und Magda von Garrel haben also Recht. Die Ansicht des Autors ist fraglos nicht mehrheitsfähig, und dies sollte den Verteidigern der deutschen Schulgebäudeanwesenheitspflicht ruhige Nächte bescheren. Die Alpträume behalten wir, als Splittergruppe, als Minderheit, als freie und selbstbestimmt denkende Eltern. Und hier, endlich, sind wir uns einig mit unseren Gegnern: Hier geht es um alles. Um unsere Kinder, um deren Freiheit, und um unser aller Zukunft.
Wir wollen allerdings ganz unterschiedliche Dinge. Siehe oben, zur Freiheit und zur Antwort auf die Frage: „Halten Sie es für zulässig, mich zu zwingen?“
Denn das, und nur das, war – und ist – hier die Frage.

Nachsatz: Ich gestehe, dass ich das Herstellen von „Kontaktschuld“ generell als heikel empfinde. Magda von Garrel schreibt gleich unter 1) ihres Plädoyers für das Beibehalten der bestehenden deutschen „Schulpflicht“: „Nach meinen persönlichen Erfahrungen gibt es erstaunlich viele „spinnerte“ Eltern, die mystischen und/oder religiösen Wahnvorstellungen anhängen. Viele dieser Eltern (womit ich nicht Sven Böttcher meine!) kämpfen schon jetzt für ein „home schooling“, damit sie ihre Kinder ohne jeden „schädlichen Einfluss von außen“ permanent in ihrem Sinne indoktrinieren können.

Die Klammer („womit ich nicht Sven Böttcher meine!“) verhindert nicht, sondern verstärkt die Verbindung zwischen den „spinnerten“ mit ihren „Wahnvorstellungen“ „indoktrinieren“ und dem Autor. Daher sei abermals richtiggestellt, dass die Forderung nach Abschaffung der „Staatsschulgebäudeanwesenheitspflicht“ denkbar weit entfernt ist von einem Plädoyer für „mystisch-spinnertes, Wahnvorstellungen indoktrinierendes Home-Schooling“. Sondern für die Freiheit und Selbstbestimmungsrecht Nichtwahnsinniger plädiert, denen Glück, körperliche wie seelische Unversehrtheit sowie (Herzens)Bildung ihrer Kinder am Herzen liegen.

(Aber was die „spinnerten“ betrifft – hier hilft die Kunst, die´s auf die Spitze übertreibt und so die Frage unterhaltend aufwirft, wem eigentlich Platz 1 in den Spinner-Charts gebührt.)

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Life is stranger than fiction # 2644

2013, Fernseh, „Der letzte Bulle“ (S4, Ep 4, „Kein Sterbenswort“): Ein bis dahin völlig unbescholtener Bürger türkt einen islamistischen Anschlag, bei dem er selbst zu Tode kommt, um die Auszahlung seiner erst ein Jahr zuvor abgeschlossenen Lebensversicherung an seine Hinterbliebenen sicherzustellen. (Der imdb-Schwarm vergab „nur“ 7,5 von 10 Sternen, mancher fand den Plot doch arg weit hergeholt.)

2017, Leben: Ein bis dahin völlig unbescholtener Bürger türkt einen islamistischen Anschlag auf die Mannschaft von Borussia Dortmund, um den Aktienkurs der Borussia-Dortmund-AG nach unten zu manipulieren und so Gewinn aus den von ihm gekauften Put-Optionen zu ziehen. (Der Postillon findet das (fake-stellvertretend für RTL) nicht nur arg weit hergeholt, sondern völlig unrealistisch.)

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