Gut, einerseits stört das ja keinen großen Geist (Karlsson rules), andererseits mag ich keine Post von netten Menschen bekommen, die verunsichert sind, weil die Trierer Informationsstelle für Multiple Sklerose (TIMS) MS-Kranken angeblich rät, sich zu „outen“ und nicht auf Böttcher zu hören. Klarstellung, daher: Die Trierer MS-Stelle rät nicht allen MS-Kranken, sich zu outen, die Leiterin der 2-Personen-Initiative hielt es nur für wichtig, das doofe Buch von diesem doofen „Medienmenschen“ Böttcher gepflegt zu verreißen und hat sich dabei an genau einer Stelle unglücklich ausgedrückt. Oder zwei oder drei.
Dass das ausgerechnet zum Fest 2015 passiert, hat wohl eher backtechnische Gründe, manchmal bringt eben auch ein Lebkuchen das Fass zum Überlaufen. Denn die lokale Initiative (Schirmherrin: Malu Dreyer) hat frisch die erste sehr schöne Ausgabe der Spender- und Stifterfinanzierten eigenen Zeitschrift vorgelegt (ZIMS 1: „Wohin geht die Reise?“), und da fast gleichzeitig zum Plätzchenessen eingeladen wird, musste wohl dringend klargestellt werden, dass Auszugsmehle, ordentlich Zucker, Butter und Milch für jeden MS-Kranken total ok sind – nicht, dass da nachher einer zu viel Böttcher gelesen hat und mit blöden Ernährungsfragen kommt, dann wär ja die ganze Backerei umsonst gewesen. Hier nun gerät TIMS-Projektleiterin Nathalie Beßler ein Dorn ins Auge, und da die Gelegenheit günstig ist, verarbeitet sie diesen Dorn als „Rezension“. Ginge es nun nur um private Bissigkeit wegen der verhagelten Plätzchen, wäre das nur doof. Da es um mehr geht, nämlich Gesundheit, ist es unschön.
Neben dem Werbefoto eines großen Glases total gesunder Milch klotzt Beßlers Blatt also den Titel „Der Guru“ hin, meint damit, logisch, yours truly, und setzt direkt in großen Lettern das Fazit nach: „Ein höchst erfolgreiches Ratgeber-Buch mit höchst seltsamen Inhalten.“
Das klingt nach einer höchst wichtigen und interessanten Warnung, also lesen wir doch, weshalb man das Buch nicht lesen sollte:
„Es gibt wohl nur noch wenige MS-Betroffene in Deutschland, die sein Buch nicht gelesen haben und denen oft nicht auffällt, dass hier zum Teil mit genau den Mitteln gearbeitet wurde, die er der Schulmedizin vorwirft: Manipulation und Fehlinformation.“
Wow. Das wird spannend, denn das wird Beßler ja wohl belegen. „Manipulation und Fehlinformation“ sind ja schon ehrabschneidende Vorwürfe. Abzüge in der B-Note gibt es aber gleich mal wegen einer Recherche-6, also für die Verbreitung von reiner Unwahrheit, denn von den etwa 220.000 deutschen MS-Kranken haben 217.000 das Buch nicht gelesen. Die eklatante Fehlinformation ist hier also ganz auf Beßlers Seite. Aber was macht er denn nun, der Typ, der angeblich wie die Pharmaindustrie manipuliert?
„Böttcher betont dabei mehrfach, dass er kein Arzt sei und mit dem Text seine eigenen Erfahrungen widergibt.“ (sic) „Gleichzeitig fügt er aber auch immer wieder Erkenntnisse aus Studien und Zitate von Ärzten und anderen Wissenschaftlern an, die seine Erfahrungen bestätigen und glaubhaft machen sollen.“
Hm. Das ist manipulativ?
Ja. Denn: „Damit verlässt er den Bereich des Erfahrungsberichts. Und hier wird es problematisch. Denn indem er für sich beansprucht, wissenschaftlich fundierte Fakten und evidenzbasierte Studienergebnisse zu präsentieren, versucht er sich unangreifbar und immun gegen Kritik zu machen.“
Wieso „für sich beansprucht“? Er präsentiert Fakten, die belegen, dass seine persönlichen Erfahrungen nicht einzigartig sind, sondern auch von anderen gemacht wurden. Unter wissenschaftlicher Aufsicht. Fakten sind Manipulation?
„Er suggeriert, dass er die Zusammenhänge erkannt hat.“
So´n Quatsch. Er wiederholt gebetsmühlenartig das Gegenteil, aber „Suggestion“ ist ja so ne Sache. Lässt sich das an wenigstens einem Beispiel belegen? Bestimmt. Aber, nee, das kann einfach so stehen bleiben, direkt weiter im Text, ohne Beleg:
„Vielmehr ist es aber so, dass gerade das Thema „MS und Ernährung“ (Plätzchen!) „wahrscheinlich sehr viel komplizierter ist, als er meint, und dass nicht alle von dieser Art der Ernährung gleichermaßen profitieren.“ (Es gibt übrigens Plätzchen).
„Problematisch hier ist außerdem, dass er nur erwähnt, was zu seiner Argumentation passt.“
Eben. Er sollte auch alles erwähnen, was nicht zur seiner Argumentation passt. Zum Beispiel, dass es butterplätzchenessende MS-Kranke gibt. Aber Beßler trinkt ja obendrein gern Milch, deshalb:
„Der Konsum von Milch ist, laut Böttcher, per se schlecht, man sei ja kein „Kuhkind“. Er erklärt dann, was Milch mit dem Körper macht, hier fallen Begriffe wie „Pech“ oder „killen“, so ganz nebenbei.“
Nein. Beileibe nicht nebenbei und schon gar nicht – wie Beßler suggeriert – im Sinne von „mit Pech gekillten“ MS-Erkrankten. Im Text heißt es nach Verweis auf die aktuelle Studienlage und einer sachlichen Veranschaulichung des Homogenisierungsprozesses lang haltbarer Milch: „Konsumenten von Milch und Milchprodukten nehmen haufenweise denaturierte Moleüle zu sich (…). Mit Pech landen die molekularen Endergebnisse dann auf der Abschussliste Ihres körpereigenen Immunsystems, weil sie körpereigenem Gewebe durchaus ähneln, aber nicht so ganz. Und werden folglich gekillt. Sollte Ihr Immunsystem nun nur noch einen Hauch übers Ziel hinausschießen und Ihr verdammt ähnlich zusammengesetztes Myelin ebenfalls für körperfremd halten, haben Sie ein Problem. Und das können Sie dann gern MS nennen.“
Was Beßler hier aus „ganz nebenbei“, „Pech“ und „gekillt“ macht, ist in der Tat höchst manipulativ.
„Und am Ende des Kapitels wird klar, nur ohne Milch kann sich die MS „beruhigen“.“
Es wird nicht besser, denn im Text ist die Rede von „besserer Chance“, nicht „nur ohne“, aber Beßlers Leser werden die Behauptung ja bloß glauben, nicht überprüfen. Dass die Korrelation von Milchkonsum und MS-Häufigkeit in diversen Studien nachgewiesen wurde, erwähnt Beßler natürlich sowieso nicht. Es kommt aber noch blöder – und kippt ins Perfide, denn:
„Böttcher liegt scheinbar auch nichts daran, etwas an der schlechten Versorgungssituation MS-Betroffener zu ändern, oder sie gar zu gesellschaftlichem oder politischem Engagement zu ermutigen.“
Hui. Das ist Beßlers erklärtes Ziel. Böttcher findet das überaus wichtig und lobenswert, ist aber nicht beim Staat angestellt und hat Kinder, muss also mit anderen Sachen Geld verdienen als mit MS. Dafür gibt´s Haue aus dem untersten Regal:
„Ganz im Gegenteil ermutigt er sie: „Schweigen Sie, wenn’s hilft“.“
Beßler weiß, dass auch diese Darstellung ihrerseits nicht nur falsch ist, sondern manipulative Fehlinformation. Denn der Satz ist Böttchers Antwort auf die ihm mitgeteilte Sorge vieler ganz neu Erkrankter, ein „Outing“ könnte ihnen Probleme bereiten, ob beruflich oder privat. Da das tatsächlich so ist (Beßler hatte diesbezüglich noch keinen flächendeckenden Erfolg, leider) empfiehlt Böttcher, nicht zwingend direkt nach der Diagnose (und ohne Einschränkungen) mit der Information hausieren zu gehen „Ich habe Multiple Sklerose“. Die gegenteilige Blankoempfehlung Beßlers, hier durch die Blume geäußert, hält Böttcher schlicht für verantwortungslos.
Nach so vielen beeindruckenden Manipulationen und Fehlinformationen auf engstem Raum bleibt Beßler nun allerdings mehr viel Platz, auch Böttcher solche Manipulationen nachzuweisen, denn die hatte sie ja eingangs behauptet. Mangels Strecke oder Interesse lässt sie den Versuch eines Belegs allerdings schlicht ganz weg und konstatiert final:
„Sven Böttcher füllt mit seinem Buch eine Lücke.“
(Na ja. Konsequent wäre doch hier gewesen: „Eine dringend benötigte Lücke.“)
„Und daran muss man seinen Erfolg messen.“
Den Erfolg am oder im Lückenfüllen? Und überhaupt: Welchen Erfolg, siehe oben? MS ist eine „Nischenkrankheit“, Autor wie Verlag war bewusst, dass hier nur Zeit und Geld investiert werden, keinerlei Gewinne zu erwarten sind (oder wenigstens eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 50 Cent pro Arbeitsstunde).
„Nicht an der Überzeugungskraft seiner Anleitung oder daran, wie viele Betroffene nun
noch ängstlicher sind, etwas falsch zu machen“ (eben. Denn er macht keine Hoffnung, sondern Angst, der Böttcher; zum Beispiel beim Butter-Milch-Weizenmehl-Plätzchenessen) „mit Bogenschießen anfangen oder stur auf Milch verzichten, obwohl bei beidem nie eine Wirksamkeit erwiesen wurde.“
Na ja, das stimmt natürlich. Nicht mal halb. Aber Bogenschießen ist wirklich nicht jedermanns Sache, man kann ja auch was anderes machen.
Zum Beispiel Plätzchen.
Und dabei den Rest der ersten TIMS-Zeitschrift lesen. Denn der ist wirklich nicht manipulativ, sondern gut.