Finsterer Mittelalterwesten, frostklar

Winters Knochen ist ein Roman vom Sahararand oder aus dem Mittelalter, nur dass die Story in Missouri spielt, und zwar heute. Niemand verirrt sich ins beschriebene Hinterland, die Stämme heißen nicht Tutsi oder Hutu, sondern „die Dollys“ oder „die Miltons“, die Regeln sind alt und eisenhart, die Strafen bei Regelverstößen erst recht. Wenn in dieser Gesellschaft ein sechzehnjähriges Mädchen Fragen stellen muss (nämlich nach seinem nicht zu einem Gerichtstermin erscheinenden Vater), begibt es sich auf lebensgefährlich dünnes Eis. Denn gewisse Fragen werden nicht gestellt. Schon gar nicht von Frauen, denn die haben nur zu sprechen, wenn sie gefragt werden.

Klingt, als hätte man´s schon mal so oder so ähnlich gelesen oder gesehen, aber garantiert noch nie so brillant be- und geschrieben wie von Daniel Woodrell. Seine 220 Seiten kommen ohne jeden Schmuck daher, jeder Absatz ist wie das Geräusch eines weit weg abbrechenden dicken Astes im Frost, bei dem man hofft, dass es von zwanzig Meter links kommt. Und nicht von oben.

Glasklare Prosa, die einen an Orte versetzt, an denen man ums Verrecken nicht sein möchte. Sowie in Situationen, in denen man erst recht nicht sein möchte. Und „Ree Dolly“ verfolgt mich, obwohl der entsetzliche brillante Roman längst im Regal steht.

Ob ich Miss Ree – gäb´s sie denn – bewunderte? Unbedingt. Ob ich sie kennen lernen wollte? Unbedingt nicht.

Daniel Woodrell – Winters Knochen (Libeskind 2011, 222 S., 18.90 €)
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Aggrosprit

Nur damit nachher keiner sagt „Aber ich wollt doch der Welt nur was Gutes tun, als ich E10 getankt hab!“: Das Zeug ist nicht deshalb schlimmer als Bacardi-Cola auf nüchternen Magen, weil es sensible Motoren verrecken lässt, sondern weil es unschuldige Fußgänger umbringt. Anderswo, klar. Weit weg, hinter der Lummerland-Verkehrsinsel und den hohen Bergen. Hungrige Fußgänger.

Drum. Vor dem Zapfen kurz die Augen aufschlagen und 1x die total absurde Verschwörungstheorie der UN checken – resp. den E10-Boykottaufruf des Umweltinstituts München. Und danach statt E10 weiterhin tanken, was sonst noch im Regal steht.

Erinnern wir uns eigentlich noch, dass sogar Al Gore, einst lautester Vorschläger der „Pack das Essen in den Tank“- und „Für die Umwelt fahren wir über Leichen“-Fraktion sich längst und zuletzt in Wir haben die Wahl von seiner damaligen Schnapsidee distanziert hatte? Aber gut, diese Erkenntnis ist natürlich erst 5 Jahre alt, also kommt sie pünktlich zum No-Excuse-Stichtag 2015 auch in Berlin an – und mit sofortiger Wirkung in die blaue Tonne, also 2025? Herrliches Tempo im Land der tempolimitlosen Dichter und Denker.

Sehr frei nach Dirk Maxeiner*: Diese Leute, die heute allen möglichen Unfug teuer verordnen, um das Klima im Jahr 2100 2 Grad über dem heutigen Stand festzunageln, das sind nicht zufällig die gleichen, die sogar beim Versuch scheitern, für 2012 die Krankenkassenbeiträge stabil zu halten?

* Bei Bedarf – polemisch, aber durchaus hilfreich bei der Meinungsfindung sowie ggf. Planetenrettung: Dirk Maxeiner – Hurra, wir retten die Welt. Wie Politik und Medien mit der Klimafrschung umspringen. (wjs, aktualisierte Neuauflage 2010, 224 S., 14.90 €)
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Essig mit Öl?

Die Frage sei gestattet, nachdem unsere ganze grüne Energierevolution auf der Prämisse basiert, dass wir über genug Öl und Kohle verfügen, um die ganzen schicken Windräder und deutschlandgroßen Solarfelder kurz hinter Algerien überhaupt zu bauen: Wie viel ist denn noch drin im Tank? Genug bis 2050? 2100? 3000? Und genug für alle, sofern auch jeder bislang noch daherlaufende Chinese und Inder freie Kleinwagenfahrt für freie Bürger fordert?

John Vidal hat im Environment Blog des Guardian vor einigen Tagen die Frage neu gestellt, als Ergänzung zu seinem Artikel von letzter Woche über die Wiki-geleckten Diplomaten-Depeschen, denen zufolge Saudi-Arabien eben nicht genug Öl fördern kann, um zukünftig die Preise weiter bei zirka 100 US-Dollar pro Rohölbarrel zu deckeln.

Drum meine Neugier, in den Raum posaunt. Und meine Bitte: sollte irgendwer von euch irgendwen kennen, der jemand kennt, der Präzises weiß, bitte ich um einen Zuruf, eine Mail oder einen Kommentar, denn meine ölige Neugier kennt keine Grenzen.

Gut, schon klar, ja, das war albern. Natürlich weiß das keiner. Und falls es gerade eben noch jemand wusste, liegt er jetzt tot in einem Bohrloch.

Also tun wir doch einfach weiter so, als wäre nichts. Schicken keinen Energie- und Umweltminister mit Peilstab zum Ghawar-Feld und bitte um Auskunft, sondern vertrauen Gott, Allah und dem ganzen restlichen Demiurgen-Club, dass uns mit deren Hilfe schon noch was einfallen wird, wie immer. Im stillschweigend kollektiven Glauben, dass „Peak Oil“ auch wieder nur so eine bekloppte Verschwörungstheorie ist und Öl in Wirklichkeit nachwächst. Von unten nach oben.

Öl wird nicht knapp! Und die Preise sind nur deshalb so unanständig hoch, weil! Weil! Die Saudis uns das Geld aus der Tasche ziehen wollen! Und BP! Und überhaupt! Röttgen! Kümmern!

(Peak-Oil-Verschwörungsspinner lesen hierzu heimlich und mit Gewinn entweder die hochspannende belletristische Verarbeitung des Themas als The Shell Game vom sonst nur für Maya-Weltuntergänge und Mutantenhaie zuständigen Steve Alten (verständlicherweise nicht ins Deutsche übersetzt) oder James Howard Kunstlers The Long Emergency (dt.: Am Ende des fossilen Zeitalters). Und Kunstlers Blog „Clusterfuck Nation“ ist ja IMHO sowieso immer wieder mal einen Blick wert …

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Menschenverstand, operativ entfernt

Die BILD für Besserverdienende hat´s am letzten Montag wieder mal auf den kollektivpanischen Punkt gebracht, diesmal in Jörg Blechs Titelstory „Wenn Ärzte irren: Risiko Fehldiagnose“ – Wir müssen alle sterben! Auch Sie können schon morgen wegen eines ärztlichen Diagnosefehlers an einem einfachen Mückenstich verrecken! 300 Prozent der zugelassenen Ärzte sind autistische Mörder, der gesunde Menschenverstand hängt neben dem hippokratischen Eid an der Garderobe, niemand stellt mehr die garantiert immer fatalen Fehldiagnosen der Maschine in Frage, und Zuhören ist kein medizinisches Studienfach! Panik! Jetzt!

Ohne Frage, es geht allerhand schief im Gesundheitssystem, und wer sich je (wie yours truly) mit einer wirklich linken und lebensbedrohlichen Krankheit hat ausreichend kaputtdiagnostizieren, –MRT-schallen und -spritzen lassen, der wird Spiegel-Autor Blech recht geben, dass man Ärzten im Zweifel weiträumig aus dem Weg gehen sollte. Sein Panikartikel unterschlägt allerdings allerhand Wesentliches, vor allem das gesamte Sujet „Eigenverantwortung mit eingeschaltetem Gehirn“. Verständlich, verzeihlich, denn wer seine Ware qua Verbreitung von Angst an Mann und Frau bringen will, darf natürlich seine Botschaft nicht verwässern. Groß ist der Mensch in der Erkenntnis seiner eigenen Nichtigkeit (Pascal), groß der deutsche Mensch und Journalist im Zuweisen aller Schuld an andere (Godesberg, vermutlich): bevorzugt den „Staat“, den „Kapitalismus“ oder eben auch einzelne Kasten (derzeit nicht so „in“ sind Ethnien, außer bei SSarrazin (Tippfehler), in besserbürgerlichen Kreisen sind halt immer wieder mal Berufsgruppen dran. Milchbauern. Atomkraftbauern. Futtermittelhersteller. Oder eben Ärzte.)

Dennoch – und nur zur Erinnerung: Husten ist nicht meldepflichtig, und erst recht muss man sich nicht sofort unters Messer legen und die Schilddrüse oder die Prostata ersatzlos rausschneiden lassen, nur weil irgendein PSA-Groupie oder sonst wie bekloppter Maschinenverherrlicher im Kittel das für ne prima Idee hält. Es zwingt einen auch keiner, längerhaltbare weiße Wandfarbe zu trinken, 5 Kilo Mischhack für 1.99 € zu kaufen oder ungeborene Hühner zu essen. Oder wegen jedem Schnupfen zum Arzt zu rennen und sich mit Breitbandantibiotika zudröhnen zu lassen. Oder sich die Hüfte rausnehmen zu lassen, weil man von den jahrzehntelangen 60 Kilo Übergewicht durch ständiges Hormongammelfleisch-an-Fritten-Fressen irgendwie so´n klein bisschen humpelt.

Tatsächlich: Kadavergehorsam ist immer noch Wahlfach. Es besteht die Möglichkeit, sich … zu informieren. Sich schlau zu machen oder wenigstens schlauer. (Ohne Scheiß: es gibt da so´n obskures Medium, so´n „Web“, echt wahr). Es besteht sogar die Möglichkeit, sich nach dem Schlaumachen schlau zu verhalten, ob im Umgang mit Krankheiten oder an der Supermarktkasse.

„Aber doch nicht in der Praxis! Jedenfalls nicht in der Praxis! das sind doch Ärzte! Studierte! Weißgötter! Rotarier!“ Hej, Untertan! Guten Morgen, Schnarchnase, gesetzlich versicherte, die Du noch nie wenigstens mal eine Arztrechnung gesehen hast: Ärzte sind Menschen und haben per se keinen besseren oder schlechteren Charakter als Postboten, Automechaniker oder Schriftsteller. Richtig gute Ärzte sind selten, richtig gute Mechaniker auch, und wer sich nach der Diagnose „Das Schleifen anner Hinnerachse is normal“ mit 200 Sachen auf die linke Autobahnspur stürzt, ist ggf. ebenfalls selber schuld.

Dass unser „Gesundheitssystem“ (sic) sich wegen seiner eisern gepflegten Fehlhaltung oft mehr schadet als nützt, an dieser Diagnose Blechs ist zwar nicht zu rütteln; Symptom und Ursache sollten wir allerdings nicht verwechseln, denn die Wurzelentzündung beginnt mit Descartes, nicht mit Hippokrates.

Was Blech, das sei doch ausdrücklich zu seiner Ehrenrettung gesagt, ganz genau weiß – denn dies und die Eigenverantwortung des Patienten beschreibt er in seinen ausgezeichneten Büchern zum Thema oft genug klug und treffend. Nur ist eben für „klug“ und „treffend“ kein Platz in Titeln, die am Bahnhofskiosk allwöchentlich bunt um ums Überleben kreischen. Diagnose: Schreihals. Führt beim Betrachter zu: Augentinnitus. Der Patient sieht permanent Pfeifen.*

Schon wieder kein Grund, zum Arzt zu gehen.

* Mit kollegialem Diagnostikerdank an V. und J.
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Volkszählung: 1 Journalist kommt auf 100.000 Pre$$titutes

Okay, das ist gar keine amtliche Meldung. Und nicht mal die „Pre$$titutes“ sind meine Schöpfung, sondern (so weit ich weiß) die des Kollegen Mathias Bröckers. Aber selbst wenn ich hier um 100% daneben liege oder dort um 1%, es spielt ja eh keine Rolle, denn „Journalismus“? Was soll das sein? Aufklärung? Echte News? Skandale und Investigation? Und sowieso: das war doch immer ein Mythos, Journalismus, mit ein paar Feigenblatt-Posterboys wie Woodward und Bernstein im Spind; so was gab´s doch nie. Sex verkauft. Gerüchte auch. Wahrheiten?

So gesehen ist natürlich auch die Sorge der paar noch lebenden kritischen Journalisten völlig unbegründet, spätestens nach der demnächst anstehenden Hinrichtung von Julian Assange wegen „Spionage“ werde mit der freien Meinungsäußerung auch unsere ganze restliche Freiheit über Bord gehen. Panikmache, das alles. Verschwörungstheorie, altersdemente! Verbreitet von irgendwelchen Dinosauriern, die keinen gut bezahlten Job mehr kriegen bei den großen Sendern und letzten großen Anzeigenblättern. Panikmache?

Hm. Wer über fünf oder zehn freie Minuten sowie eine masochistische Ader verfügt, der lasse sich gelegentlich von Dinosaurier Bill Moyers leicht zeitversetzt zur History Makers Convention begrüßen; seine Eröffnungsrede findet sich hübsch transkribiert im Alternet, Moyers Einschätzung des typischen „John Doe“ scheint mir auf Otto Normalverbraucher durchaus übertragbar („America seems more and more unable to deal with reality. So many people inhabit a closed belief system on whose door they have hung the „Do Not Disturb“ sign, that they pick and choose only those facts that will serve as building blocks for walling them off from uncomfortable truths“), und Moyers abschließende Anmerkungen zum bevorstehenden Kampf um das Netz sollte sich die Piratenpartei in geeignet großen Lettern auf die Fahnen kopieren.

Aber immerhin: auch wenn John und Otto vor lauter DSDS, Dschungelcamp und Facebook-Pflege nicht mal mehr begreifen, wovon eigentlich die Rede ist und was auf dem Spiel steht, hat die Sorge um vierte Gewalt die Ufer des Mainstream fast erreicht, wo sie hoffentlich zumindest kleinere Wellen auslöst. Zu besichtigen ist das in eindrucksvoller, weil spannender Form in Rod Luries Nichts als die Wahrheit, einem „Politthriller“, der nur deshalb nicht gut erfunden ist, weil er kaum erfunden ist. US-Journalist Josh Wolf lässt aus der Realität grüßen, nach einem neunmonatigen Knastaufenthalt wegen seiner Weigerung, den Behörden die Namen von Demonstranten zu verraten, Fotograf Bilal Hussein grüßt ebenfalls (2 Jahre inhaftiert, Berufsaussichten: trüb, jedenfalls jenseits vom McDonalds-Drive-In-Schalter), und auch den Rest seiner „Wahrheit“ baut Autor und Regisseur Lurie aus realen Versatzstücken wie der Enttarnung von CIA-Agentin Valerie Plame. Besonders bedrückend aber wird sein Film durch die schillernd dargestellte Rolle der Presse selbst bei der Verteidigung der Pressefreiheit: Whistleblower, Wikileaks-Spione und investigative Journalisten können nämlich bestenfalls 48 Stunden lang mit energischer Verteidigung durch die „Kollegen“ rechnen (siehe oben, 100.000). Danach erlahmt das Interesse von Publikum und Nachrichtenschreiern umgehend, Katzenberger und Kachelmann kehren zurück auf die Titelseiten, und Manning, Assange und ihre zahlreichen fast anonymen Verteidiger der Freiheit verrotten ebenso unbemerkt als gelegentlicher Zweizeiler unter „Vermischtes“ wie Luries fiktive Rachel Armstrong.

Nichts als die Wahrheit. Kein schöner Film, aber ein wichtiger.

Wer gar Zeit für Echtes hat, resp. „your reality check is in the mail“, wendet sich bitte via DVD-Versender direkt an den von mir schon häufiger öffentlich verehrten John Pilger, denn der hat mit seiner letzten Dokumentation The War You Don´t See wieder einmal gezeigt, was Journalismus kann, soll, darf und muss. Ob´s die Doku auf Deutsch gibt, entzieht sich meiner Kenntnis; ich bin aber relativ sicher, dass sie nicht um 20.15 Uhr auf einem öffentlich-rechtlichen Sendeplatz gezeigt werden wird. Wo sie natürlich gezeigt werden müsste, aber das Fass lassen wir jetzt mal hübsch vernagelt und gratulieren den Steuerfinanzierten statt dessen zu jedem Pilawa-Quotenkantersieg gegen die gleichzeitig so zirka genau das Gleiche sendenden Privaten.

Ergänzend, falls irgendwer noch immer nicht genug hat von diesem ganzen Schwarzgemale und Freiheitbedrohtsehen, nur weil die letzten echten Journalisten wahlweise weggesperrt, ausgehungert, umgelegt oder von Monsanto unter freie Brücken geklagt werden, liefert ein Film von Annie Sunderberg und Ricki Stern gerade wegen der typisch amerikanischen Vereinfachungen eine schöne Portion Denkfutter für Nichtdauerbetäubte. Sunderbergs und Sterns The End of America ist kaum mehr als ein abgefilmter Vortrag von Naomi Wolf, deren gleichnamiger Bestseller sich wie ein „How To“-Ratgeber liest (und nun eben auch verkürzt ansehen lässt), in diesem Fall: „Wie man ein freies Land in zehn Schritten zu einem faschistischen umkrempelt“.

Mit welchem Land Wolf ihre Heimat vergleicht, historisch? Na, bitte! Das sind dann die Stellen im Vortrag, an denen nur die Amerikaner im Publikum staunen und einander zuraunen, „Wie, die haben das damals in Deutschland genauso gemacht? Sind wir denn nicht mal mehr in der Hinsicht originell?“

Leider nicht, folks. Und zweischneidig schwach gerät der Trost: Ihr seid nur wesentlich gefährlicher bewaffnet für die nächsten Schritte.

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Zahlensalat (wurscht)

Irgendwas geht hier nicht zusammen, Lieschen Müllermilchmädchen: Einerseits sind doch „vegan“ und „vegetarisch“ laut Spiegel und Co. inzwischen nicht mehr nur eine Randsportart für geborene Opfer, sondern wegen des ganz neuen gesellschaftlichen Bewusstseins geradezu angesagt, andererseits vermelden die deutschen Lebensmittelhersteller für 2010 3,9% Prozent Zuwachs beim Fellüberdieohrenziehen, Schreddern und Verwursten – vulgo ein historisches Rekordergebnis von 8 Millionen Tonnen Fleischerzeugnissen.

Was heißt denn das? Die Fleischfresser essen das auf, was die Vegetarier haben stehen lassen und bestellen sicherheitshalber obendrein ein Kindertellerschnitzel als Nachtisch? Oder: die entschlossenen Vegetarier kaufen zwar Fleisch, werfen es aber dann zu Hause weg, damit keiner die armen Tiere essen kann?

Wie, Schwachsinn? Ob ich zu viel Rindfleisch gegessen hab?

Ich doch nicht!

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Miese Mitbringsel

Zum feierlichen Essen eingeladen, bei Freunden? Besser nicht auf die Idee kommen, Bücher von der nachfolgenden kurzen Liste als Gastgeschenke mitzubringen, denn von Foer bis Duve, von Tolle bis Naish gilt: Lesen ist Pflicht, Verschenken ein Affront.

Duve und Foer, derzeit unübersehbar, behandeln in Anständig Essen resp. Tiere essen das gleiche Thema; die Entscheidung „Wie hätten Sie´s denn gern?“ fällt nach persönlichem Geschmack. Duve dürfte etwas massentauglicher sein, da sie ihren Selbstversuch auf dem Kenntnisstand eines fränkischen Fahrzeuglackierers beginnt und ohne größeren ethischen oder journalistischen Anspruch krachledern durchs Thema poltert. Das ist gelegentlich wirklich lustig und zudem volksnah anekdotisch, dürfte also die „Fleisch ist mein Gemüse“-Fraktion eher erreichen als Foers schöngeistiger Ansatz, und damit wäre ja der edlen Sache gedient. Von beiden. So oder so. Ich hab jedenfalls sowohl als auch mit Gewinn zu mir genommen. Sowie Genuß. An neuen Erkenntnissen.

Weshalb ich persönlich den erschütternden Foer bevorzuge, hatte ich bereits letztes Jahr kurz beschrieben, über mein schlechtes Gewissen wegen meiner folgenden sommerlichen Grill-Aussetzer schreib ich hier lieber nix. Ich weiß, ich komme in die Hölle. Auch wenn ich nur noch höchstens einmal die Woche Rinderfilet esse und sonst nichts ehemals Lebendes mehr, kein Huhn, kein Schwein, kaum einen Fisch, keine Wurst. Und Milchprodukte und Eier sowieso nicht. Keine Fertigwaren. Mein Kopfkissen und eine Bettdecke sind synthetisch. Meine Schuhsammlung ist weitgehend vegan. Aber das nützt natürlich alles nichts, es bleiben noch ausreichend Sünden. Andererseits … so bummelig 8 von 10 Geboten, hey, ist das nix!?

Wie, Vergebung ist kein Kuhhandel?

Auch nicht so toll als Mitbringsel macht sich David Servan-Schreibers Anti-Krebs-Buch, schon wegen des bedrohlichen Titels. Da nützt nämlich auch das Anti nichts, sogar ein negierter Krebs weckt unschöne Assoziationen. Es steht also zu befürchten, dass man das Buch erst auf dem eigenen Radar erkennt, wenn´s zu spät ist – man also selbst betroffen oder via Freunde/Bekannte mit dem tödlichen Thema konfrontiert.

Was ein Jammer ist. Denn tatsächlich leistet Servan-Schreiber eine Menge, denn sein Buch dient der Prävention. Möglicherweise sogar der von Krebs, erst recht aber der Prävention von allerlei anderen unschönen Krankheiten.

Krankheiten?

Man kann doch nicht gesunden Freunden ein Buch über Krankheiten schenken.

Aber vielleicht doch mal drauf hinweisen. Mit Appetizer: Macht auch schlank, das Buch. Wenn man´s nicht nur liest.

Ach so, und John Naishs: Genug – Wie Sie der Welt des Überflusses entkommen; das hat mir ein Freund nicht neben den Teller gelegt, sondern ans Herz, nachdem ich mich als Freund und Verehrer von Meinhard Miegels Exit geoutet hatte. Naish hat weniger Esprit, dafür aber mehr Zahlen, und das hat durchaus seinen Reiz.

Aber: Vorsicht. Sein Buch ist nicht nur kein Mitbringsel für den verwöhnten Allesverbraucher von nebenan, sondern erst recht keins für die Patenfamilie auf Haiti. Wer „Genug!“, „Exit!“ und „Konsumstopp!“ für weltweit brauchbare Schlachtrufe hält, leidet an der galoppierender Egozentrik. Jener sollte daher dringend Eckart Tolles: Eine neue Erde geschenkt kriegen. Aber das kann man nun wirklich nicht machen. Da muss schon jeder selber drauf kommen.

P.S.: Vergessen. Grimm. Hans-Ulrich. Die Ernährungsfalle. Das geht. Das kann man verschenken. Sofern der Gastgeber Anfänger ist und nicht bereits den ganzen Schrank voll Pollmer-Bücher stehen hat, in dem Fall schenkt man sich den Grimm dann doch besser ganz.

Karin Duve: Anständig essen (Galiani 2010, 335 S., 19.95)
Jonathan Safran Foer: Tiere essen (Kiwi 2010, 399 S., 19.95)
David Servan-Schreiber: Das Anti-Krebs-Buch (Kunstmann 2011, 399 S., 24.90)
Hans-Ulrich Grimm: Die Ernährungsfalle (Heyne 2010, München, 528 S., 19.90)
John Naish: Genug – Wie Sie der der Welt des Überflusses entkommen (Bastei, 304 S., 8.99)
Eckart Tolle: Eine neue Erde – Bewusstseinssprung anstelle von Weltzerstörung (Goldmann 2005, 320 S., 19.90)
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