Winters Knochen ist ein Roman vom Sahararand oder aus dem Mittelalter, nur dass die Story in Missouri spielt, und zwar heute. Niemand verirrt sich ins beschriebene Hinterland, die Stämme heißen nicht Tutsi oder Hutu, sondern „die Dollys“ oder „die Miltons“, die Regeln sind alt und eisenhart, die Strafen bei Regelverstößen erst recht. Wenn in dieser Gesellschaft ein sechzehnjähriges Mädchen Fragen stellen muss (nämlich nach seinem nicht zu einem Gerichtstermin erscheinenden Vater), begibt es sich auf lebensgefährlich dünnes Eis. Denn gewisse Fragen werden nicht gestellt. Schon gar nicht von Frauen, denn die haben nur zu sprechen, wenn sie gefragt werden.
Klingt, als hätte man´s schon mal so oder so ähnlich gelesen oder gesehen, aber garantiert noch nie so brillant be- und geschrieben wie von Daniel Woodrell. Seine 220 Seiten kommen ohne jeden Schmuck daher, jeder Absatz ist wie das Geräusch eines weit weg abbrechenden dicken Astes im Frost, bei dem man hofft, dass es von zwanzig Meter links kommt. Und nicht von oben.
Glasklare Prosa, die einen an Orte versetzt, an denen man ums Verrecken nicht sein möchte. Sowie in Situationen, in denen man erst recht nicht sein möchte. Und „Ree Dolly“ verfolgt mich, obwohl der entsetzliche brillante Roman längst im Regal steht.
Ob ich Miss Ree – gäb´s sie denn – bewunderte? Unbedingt. Ob ich sie kennen lernen wollte? Unbedingt nicht.
Daniel Woodrell – Winters Knochen (Libeskind 2011, 222 S., 18.90 €)