Steigt ein Mann ins Auto, biegt falsch ab und telefoniert 85 Minuten. Klingt nicht direkt fesselnd? Ist aber. Höchst und absolut.
Locke heisst auf deutsch nicht Locke, weil das irreführend gewesen wäre (zumal ja der grandiose Hauptdarsteller Tom Hardy gar keine Locken hat) – stattdessen ist man auf einen für Deutsche verständlicheren Titel ausgewichen, nämlich No Turning Back. Vermutlich, weil das nach Thriller klingt und man hofft, spätestens auf den Saturn-Grabbeltischen noch ein paar Nichtlesefähige in die Irre zu führen.
Aber Locke ist, obwohl hochspannend, kein Thriller. Locke ist ein Ein-Personen-Roadmovie (geschrieben und inszeniert von Steven Knight): es gibt keinen einzigen Umschnitt zu den anderen Charakteren, die hier alle entscheidenden Rollen spielen, keinen einzigen anderen Darsteller im Bild – wir bleiben die ganze Zeit bei Ivan, Nachname Locke. Der sich nach einem ganz normalen Arbeitstag als Zementbau-Vorarbeiter entscheidet, nicht nach Hause zu fahren und gemeinsam mit seinen vorfreudigen Söhnen und seiner wunderbaren Frau das anstehende Spiel der gemeinsamen Mannschaft im Fernseh zu schauen, sondern nach rechts abzubiegen. Dafür hat er gute Gründe, aber das Abbiegen wird ihn im Verlauf der nun folgenden 85 Minuten alles kosten, was sein Leben bis zu diesem Augenblick ausgemacht hat. Und wir dürfen mitfahren und zuhören, wie Locke mit einem ganzen Haufen Leute telefoniert. Und wir dürfen dabei „on the edge of our seats“ uns selbst fragen, wie wir uns verhalten hätten, verhalten würden, was wir denken, sagen, tun würden an Lockes Stelle.
Es geht in diesen 85 Minuten um alles: um den Preis für Loyalitität, um Integrität, um Rückgrat, um Moral – und darum, wie wir zu unseren Fehlern und Versäumnissen stehen. Und Ivan Locke ist eben kein Held, der sich für Schottland oder gleich die ganze Menschheit opfert, sondern im allerbesten Sinn „Du und ich“. Weshalb garantiert so mancher den Film regelrecht unangenehm finden wird, denn normalerweise übersetzen wir ja „Verantwortung übernehmen“ nur noch mit „Zurücktreten, aber bei vollem Rentenanspruch.“
Drum sei die Bemerkung sicherheitshalber gestattet: Wer hier einsteigt, begibt sich auf eine schmerzhafte Reise und steigt verändert wieder aus. (Es sei denn, er oder sie ist wahlweise mindestens Braveheart oder Gandhi oder eben von Kopf bis Herz aus Holz.)