Gesunde Skepsis macht längerfrisch

„Wer sich für eine Therapie entscheidet, verliert den Anspruch auf Schicksal. Dies will bedacht sein.“

Der Satz steht zum Glück nicht ganz vorn in Gerd Reuthers neuem Buch „Die Kunst, möglichst lange zu leben„, sonst müsste man sich ja erst mal setzen und ein paar Stunden erholen. Oder zöge die Konsequenzen direkt, verzichtete auf jede Therapie – und vielleicht auch gleich auf das Buch. Damit hätte man dann allerdings was verpasst, denn Dr. Reuthers schöner Text bringt im gestreckten Galopp viel Wesentliches in Sachen Krankensystem auf den Punkt: ohne Verzierungen, konzentriert und sicher nicht immer „pc“ im Sinne von „Man muss aber doch auch berücksichtigen, dass mancher Arzt/Pharmavertreter/Gesundheitsminister eine schwere Kindheit hatte“. Kann man ja privat machen, aber muss man eben nicht, wenn es für einen selbst um lebenswichtige Entscheidungen geht. Und bei der Entscheidung für oder gegen die vom System angebotenen Therapien geht es eben oft genau darum, um Leben oder Tod.

Da ich gelegentlich selbst zur Präzision neige, hat mich im Text aber dann doch eines durcheinandergebracht, denn da ich (Peter Goetzsches gut begründeter Einschätzung folgend) „nur“ von etwa einer knappen halben Million iatrogener (behandlungsbedingter) Todesfälle in den USA + Europa ausgehe, hat mich Gerd Reuthers Einschätzung irritiert, es würde „jährlich in Deutschland eine Großstadt mit 300000 Einwohnern durch Therapieversuche ausgelöscht.“ Da hilft´s dann sehr, wenn man email kann. Kann ich. Und Gerd Reuther auch. Den ich hier – mit seiner freundlichen Erlaubnis – zitiere:

„Nun, woher kommt meine qualifizierte Abschätzung? Es sind die Daten über die 30-Tage-Sterblichkeit einer europaweiten Studie für Deutschland (2,5%) bei mindestens 8 Mio Operationen in Narkose. Die aus mehreren Studien abgeleiteten 60-70.000 Medikamententoten sind sogar mit deutschenDaten abgesichert, die eine medikamentös bedingte Sterblichkeit von 0,3% der stationären Patienten ermittelt haben. Bei 20 Millionen Patienten sind wir bei mindestens 60.000. Und die Infektionstoten durch Klinikkeime sind mindestens 30.000 nach den Schätzungen des Deutschen Instituts für Krankenhaushygiene. Lebensweltlich auch gut nachvollziehbar: bei 800 Akutkliniken sind dies alle 10 Tage 1 Toter in jedem Krankenhaus. Glaubhaft, da Sie pro Tag in einem Akutkrankenhaus sehr konservativ geschätzt mindestens 10 Patienten haben, die Infektionszeichen entwickeln. In 10 Tagen sind dies 100 und davon stirbt dann einer. Das wäre nur eine Mortalität von 1% bei Klinikkeimen … 200.000 + 65.000 +35.000 = 300.000. Davon darf man dann im Saldo vielleicht 100.000 abziehen, die durch Behandlungen vor einem schnelleren Tod bewahrt wurden. Bei unseren 800 Akutkliniken würde dann an jedem 3. Tag in jeder derKliniken 1 Leben gerettet.

In den USA sind die Zahlen 3-4x so hoch: http://www.webdc.com/pdfs/deathbymedicine.pdf“

Da muss ich also doch noch mal ran an das eigentlich fertige „Rette sich wer kann!“ Schöner Mist.

Gerd Reuther aber bleibt zu wünschen, dass seine sauber geworfenen Zaunpfähle ihre Ziele treffen, denn ein Treffer würde wohl so manchem, der krank ist oder sich so fühlt, glatt das Leben retten. Ich erinnere mich allerdings (ungern) an die Worte meines Philosophielehrers von einst, das Problem sei weniger die Größe der Waffe als die Winzigkeit der Ziele. So wird eben mancher, den es anginge, gar nicht lesen, und manch anderer „das“ ja alles gar nicht glauben können, weil´s ihn in der derartig kognitiv überfordert, dass er doch lieber gleich das Weite sucht. Aber das ist ja nichts Neues, und Reuther hat´s ja zumindest versucht, das mit dem Lebenretten.

(Ich sehe ihm dabei wahnsinnig gern nach, dass er die über die „Kunst der Länge“ hinausgehenden Fragen „Wozu überhaupt lange leben?“ oder „Wie überhaupt leben?“ oder „Was ist ein gut gelebtes Leben?“ in seinem konzentrierten kleinen Buch nicht stellt, denn irgendwas Wesentliches muss ja, Danke sehr, auch noch mir zum Erörtern übrig bleiben.)

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