Wenn einem so viele Autos entgegenkommen, sind das natürlich alles Geisterfahrer … aber gelegentlich beschleicht mich ja nun doch der Verdacht, dass die Dinge anders liegen bzw. ausgerichtet sind, nämlich meine Schnauze ordnungswidrig in den korrekt fahrenden Mainstream. Ich arbeite daher gerade an einem Wendemanöver, denn …
1) Wollte die Hamburger MoPo dringend meinen Standpunkt zum Krankensystem haben, bat mich, meinen Blogeintrag dazu auf geeignete Weise zu kürzen, war dann aber (nach meiner Kürzung) der Meinung, nee, das sei ja … polemisch. Und auch gar kein Standpunkt. Jedenfalls nicht der gewünschte, also der der Redakteurin, die in nuce auf dem eigenen Standpunkt steht, es gebe eben nicht zu viele Ärzte, sondern zu wenige.
Unsere Standpunkte sind also als Freunde auseinandergegangen, meiner bleibt ungedruckt. Ulrich Montgomery übernimmt garantiert gern.
2) Saß ich letzte Woche in einer Gesprächsrunde zum Thema „Wie krank ist unser Gesundheitssystem“. Schon im Vorgespräch war allerdings klar, dass meine Position wenig brauchbar ist, denn ich bin ja der Ansicht, dass unser Gesundheitssystem nicht krank ist, sondern tot. Hingegen ist das Krankensystem, das an die Stelle des Gesundheitssystems getreten ist, kerngesund. Hierzu muss man dann allerdings satte 2-5 Minuten lang vertiefen, dass das Krankensystem keine Insel ist, sondern Teil des Wachstumssystems, dessen Erfolg wir mittels BIP messen – also jener Zahl, vor der sogar ihr Erfinder, Nobelpreisträger Simon Kusnets, von Anfang an warnte – und vor ein paar Jahren noch mal sehr deutlich. Er ist in guter Gesellschaft.
Nach meiner Erfahrung lässt sich das Drama sehr hell und schnell vermitteln, und es versteht auch jeder, worin das Problem tatsächlich besteht. Auf dieser Grundlage lässt sich dann prima verhandeln, ob man das Krankensystem in sich ändern kann, ob man das Gesamtsystem ändern müsste, ob das überhaupt geht, und – wenn nicht – wie man die eigene Gesundheit in Zukunft noch schützen kann. Auch hier: wenn überhaupt – siehe Digitale Patientenakte, CancerSeek und AbilifyMyCite.
Aber all das scheint … weitgehend uninteressant zu sein. Jedenfalls für Menschen, die im Krankensystem tätig sind oder „komplementäre“ Heilungen anbieten oder die für ein größeres Publikum arbeiten und senden und dabei wissen: Das wollen die Leute nicht hören, die Leute = das Publikum. Da fühlt sich der Zuschauer angegriffen, wenn man den förmlichen Ball zu ihm zurückspielt und ihn in die Selbstverantwortung nimmt.
Möglich.
Andererseits … waren dann nach der Veranstaltung doch diverse Menschen aus dem Publikum bei mir und fragten sich (und mich), wieso denn all meine Versuche, übers angekündigte Thema zu reden, so schnell erstickt worden waren. Ich will mal optimistisch annehmen, dass das nur an der Besetzung der Runde lag, denn fraglos konnten die alle besser als ich Hoffnungen wecken, dass man mit etwas gutem Willen so gut wie jede Krankheit wieder loswird.
Natürlich hört man das gern.
3) Bin ich eine echte Mehrfachspaßbremse. Aber eine höfliche. Ich habe mir daher in der Runde alle Bemerkungen verkniffen, die darauf hätten hindeuten können, dass es auch so was wie Schicksal gibt – und dass wir eben nicht auf alles Einfluss haben. Mir erscheint das wichtig, und ich finde es auch nicht als Spoiler, wenn man sich die Möglichkeit des Scheiterns eingesteht. Aber auch das will offenbar keiner wissen. Weil man dann … direkt die Hoffnung verliert?
Aus meiner Erfahrung mit den vielen, die sich an mich wenden, ist das Gegenteil der Fall. Sich einzugestehen, dass man Krankheit nun mal offensteht und dass es auch so was wie echte äußere Einflüsse und Schicksal gibt, deprimiert „meine“ Ratsuchenden nicht, sondern befreit sie von Schuldgefühlen. Unser Bemühen, wieder heil zu werden und dafür alles zu tun, unseren Körpern und Seelen zu helfen, ist nicht kleiner als vor der Erkenntnis „Es könnte aber auch schiefgehen“, sondern mindestens genauso groß wie vorher. Daraus ergibt sich aber eine Zusatzerkenntnis, die mir essentiell erscheint: Wir sind jederzeit sterblich. Und es ist nicht deprimierend oder schlimm, sich das einzugestehen, es ist hilfreich. Denn es verändert unseren Blick auf alles, jeden einzelnen Tag und auf das Leben an sich.
Offenbar ist das keine Ansicht, die man einem größeren Publikum zumuten sollte.
In der Runde saßen neben mir Dr. Rüdiger Dahlke und Lothar Hirneise. Lothar Hirneise hat ein faszinierendes Buch über Krebs geschrieben, ich habe viel gelernt und kann zu vielen seiner grundsätzlichen Erwägungen nur nicken. Ich bin aber nicht seiner Ansicht, dass jeder Krebs grundsätzlich heilbar ist. Schon gar nicht, wenn man bereits über 80 ist. Siehe oben, Spoiler und Spaßbremse: Meines Wissens müssen wir irgendwann an irgendwas sterben. Aber es scheint vielen Leuten besser zu gehen, wenn sie das schlicht ignorieren.
Rüdiger Dahlke hat 65 Bücher geschrieben. Ich bin ganz seiner Ansicht, dass die sogenannte Seele eine große Rolle spielen kann bei der Entstehung von Krankheit und bei dem Rückweg zur Genesung. Überdies bin ich wie er der Ansicht, dass unser Aufenthalt hier eine Reise darstellt und wir die Gelegenheit nutzen sollten, Erkenntnisse zu gewinnen über uns selbst und unsere Rolle im ewigen Samsara.
Nur … in „Krankheit als Sprache der Seele“ schreibt Dahlke (unter vielem anderen): „Ein gebrochener Arm symbolisiert ein gebrochenes Verhältnis zur Welt.“ Ich glaube, manchmal symbolisiert ein gebrochener Arm ein gebrochenes Verhältnis zum Fahrrad oder zum gegnerischen Vorstopper. Will sagen: Wer das Grobstoffliche komplett ausblendet und alle Antworten in der „Seele“ sucht, übersieht vermutlich in vielen Fällen etwas ganz Wesentliches. Zum Beispiel den rostigen Nagel im eigenen Fuß.
Im übrigen, um noch fester auf die Spaßbremse zu treten: Wer die „Misserfolge“ all jener ausblendet, die sich eifrigst bemühen und doch nicht so ganz wieder heil werden oder gar krank bleiben oder sterben, insinuiert unbewusst oder ungewollt, „dann hast du dich eben nicht gut genug bemüht“. Ich finde das desaströs, insbesondere im herrschenden Zeitgeist, in dem ja dank reichlich neoliberalem Rückenwind das eh schon fragwürdige „Jeder ist seines Glückes Schmied“ geworden ist zu „Jeder ist seines Unglückes Schmied“.
So bleibe ich als, den Fuß fest auf dem Pedal in der Mitte, gespannt auf die Ausstrahlung der Gesprächsrunde, irgendwann tbd. Soweit ich mich entsinne, hätte im Publikum beinahe jemand geklatscht, als ich sagte „Schuld liegt in der Vergangenheit, Verantwortung in der Zukunft“, aber bevor ich das vertiefen konnte, waren mW schon wieder alle mit dem Senden von was anderem beschäftigt.
(Ich frage mich trotzdem (bockig) weiterhin, ob es nicht doch ein „Publikum“ gibt für die IMHO realistischere und entspannende Wirklichkeitssicht, frei nach Camus: Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.)
(Hat das iPhone eigentlich eine Kamerafunktion? Muss ich mal prüfen, ToDo-Liste irgendwo weit unter „Pilotbuch schreiben“, „Zucchini säen“ und „Steuererklärung“.)
Ich denke, dass wir uns daran gewöhnt haben alles Mögliche so „nebenbei“ zu machen. Wir lesen Zeitung (oder eher am Handy) während wir essen, wir brauchen Musik zum Joggen/Radfahren, usw…
Bei Krankheit soll sich die Heilung auch am Besten ohne Krankenstand einstellen, weil man ja auf Arbeit auch nicht ersetzbar ist [sic!] und mit 2-3 Tabletten wirds schon wieder. Kapazität um sich zu informieren oder vielleicht sogar sein eigenes Leben zu überdenken? – Kein Platz neben all den „wirklich wichtigen“ Dingen des Lebens 🙂
Ich denke die gewünschte Zielgruppe gibt es deshalb nicht, weil es unwahrscheinlich ist, dass
1) sich jemand selbst eingesteht, vielleicht nicht genug auf den eigenen Körper/die Seele gehört zu haben
2) man überhaupt gewillt ist Ärztemeinungen zu hinterfragen
3) man zusätzlich noch die Kraft hat im gesundheitlich angeschlagenen Zustand noch gegen den Therapiedruck anzukämpfen
usw.
Ich denke dass da noch viel mehr hineinspielt. Die Leute, die überhaupt GEWILLT sind, zu hinterfragen, landen über kurz oder lang auf der esoterischen Schiene, denken Homöopathie ist allmächtig und nicht „nur“ Placebo, legen Engelskarten oder sonst was. Das spielt das Thema zwangsläufig als 2dimensionales Gut-Böse Konstrukt an die Wand und verhindert jede wirklich sachliche Auseinandersetzung.
Dass es insgesamt auch ziemlich deprimierend ist und in manchen Fällen eben auch heißt, dass einzelnen Personen nicht wirklich geholfen werden kann, erübrigt dann ziemlich den Rest.